Sittenbild einer Republik

Wir brauchen einen Neustart der politischen Kultur in Österreich.

Die bekanntgewordenen Chat-Protokolle zeichnen ein Sittenbild der neuen Volkspartei, das in zu vielen Kreisen lediglich auf Schulterzucken stößt. In beinahe so deutlichem Ausmaß und genauso unleugbar wie das Ibiza Video legen uns die leitenden Akteure der neuen Volkspartei dar, wie alt ihr Stil in der Dimension des Postenschachers ist. Das Sittenbild, welches über Jahrzehnte von ÖVP und SPÖ entwickelt und von der FPÖ fleißig übernommen wurde, entspricht einer kalten Machtpolitik und dem Prinzip, die eigenen Interessen und jene der engsten Vertrauten im Zweifelsfall eindeutig über jenen der Republik anzusiedeln.

Aber einige der Reaktionen auf die Veröffentlichung der erbärmlichen Versessenheit auf Versorgungsposten und der Demütigung von Kritikern sind ebenfalls bezeichnend. Die moralische Verwerflichkeit von den Chat-Inhalten wird von kaum jemandem in Frage gestellt. Gleichzeitig werden die Verfehlungen aber scheinbar damit gerechtfertigt, dass man ja nichts anderes gewohnt sei. Dieses Verhalten habe es schon immer gegeben und man könne es überall beobachten. Die Erklärung „machen eh alle so“ scheint für viele ausreichende Rechtfertigung zu sein.

Dass Österreich ein Problem mit einer weit verbreiteten Kultur der Korruption auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen hat ist kein Geheimnis. Diese Kultur beginnt bei den Covid-Impfungen, die in den Oberarmen von Bürgermeister-Familienmitgliedern statt jenen von Risiko-Gruppen landen und endet bei dem Chef der ÖBAG. Jene Kultur, die in führenden Regierungskreisen seit Jahrzehnten gelebt wird, strahlt mit unheilvoller Vorbildwirkung auf die anderen gesellschaftlichen Ebenen des Landes. Dass eine breite Prävalenz eines verwerflichen Verhaltens dieses aber keineswegs rechtfertigt, sollte man jedoch nicht weiter ausführen müssen.

Wir sollten an uns selbst einen höheren Anspruch stellen, auf allen Ebenen der Politik und der Gesellschaft. Wenn wir unser Handeln ausschließlich daran festmachen, wie man die Dinge „eben schon immer gemacht habe“, dann werden wir auch keine Verbesserungen erwarten dürfen. Wir brauchen einen Neustart der politischen Kultur in Österreich. Wir sollten uns den kompromisslosen Anspruch stellen, dass persönliche Bereicherung auf Kosten der Republik ein inakzeptables Verhalten darstellt. Die Akzeptanz dieser einfacher Forderung von führenden Regierungspolitikern stellt in vielen Ländern ein Mindestmaß an Anstand dar und scheint in Österreich jedoch oftmals ein unerreichbares Ideal zu sein.

Nur ein rechtlich abgesichertes, politisches System der lückenlosen Transparenz und tiefgreifenden Kontrolle wird es uns ermöglichen, die Diskussionen über korrupten Postenschacher endgültig hinter uns zu lassen und uns den wahren Zukunftsthemen widmen zu können.

Mein Gastbeitrag aus der Wiener Zeitung.